„In Kirchen ist nichts zufällig. Von der Ausrichtung des Gebäudes bis zu den einzelnen Dekorationen. Das Kirchengebäude selbst predigt schon. Das Gebäude selbst verkündet das Wort Gottes.“ Diese Sätze eines meiner Theologieprofessoren sind mir im Gedächtnis geblieben. Vielleicht weil ich als frühere Bauingenieurin eine besondere Beziehung zu Bauwerken habe. Wie wahr diese Aussage ist, ist mir vor ein paar Tagen wieder aufgefallen. Ich habe abends während die Kirchenglocken läuteten zum Gebet in der Kirche gesessen. Dabei war mein Blick auf das große Fenster über dem Altar gerichtet. Der segnend die Hand erhobene Christus mit seinem ruhigen Blick schenkt mir immer wieder Ruhe und Kraft. Aber dieses Mal fiel mein Blick auf die sechs kleinen Fenster, die wie Blütenblätter das Mittelfenster umgeben. Den Blättern und Ranken auf den kleinen Fenstern hatte ich nie viel Beachtung geschenkt. Jetzt fiel mir zum ersten Mal auf, dass es sich bei den Ranken um Weinstöcke handelt, an denen reife Trauben hängen.
Auch das große Fenster über dem Altar in der Willmenroder Kirche ist eine Predigt. Es stellt den Predigttext zum Sonntag Jubilate dar: Im Johannesevangelium im 15. Kapitel sagt der auferstanden Christus zu seinen Jüngern: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
Die Weinreben in den Fenstern wachsen alle von der Mitte nach außen. Christus ist das Zentrum der Gemeinde. Was für ein schönes Bild, was uns dort vor Augen geführt wird: Christus blickt liebevoll auf seine Gemeinde und wir alle sind wie die reifen, saftigen Reben. Reben, die nicht aus sich selbst heraus gewachsen sind, sondern ihre Kraft aus dem Weinstock ziehen. Auch wir können unsere Kraft aus Christus ziehen; wenn wir im Gebet ins Gespräch mit ihn kommen, wenn wir über Texte der Bibel nachdenken. Sich zwischendurch einfach einen kleinen Moment Zeit nehmen, vielleicht wenn abends um 19:30 Uhr die Glocken zum Gebet einladen, vielleicht aber auch morgens, wenn man noch etwas verschlafen im Bett liegt und der Tag mit seinen Sorgen und seiner Hektik uns noch nicht gefangen genommen hat. Ein paar Minuten für Gott, um wie die Reben Kraft aus dem Weinstock zu ziehen. Gerade auch in Zeiten, die uns viel abverlangen, kann das etwas ganz Besonderes sein.
Ihre Pfarrerin Hilke Perlt